Wie erleben geflüchtete Frauen und Männer ihren neuen Alltag in Deutschland? Heute: Busfahren
A.Y. (aus Damaskus): Was ich hier in Deutschland gut finde: Es gibt einen Fahrplan. Man weiß genau, wann der Bus fährt. Und er ist fast immer pünktlich. Wenn er um 8:04 Uhr fahren soll, dann kommt er um 8:04. Das gibt es in Syrien so nicht.
Annette (aus Markgröningen): Also, ich ärgere mich ja ehrlich gesagt jeden zweiten Morgen darüber, dass der Bus unpünktlich ist oder die S-Bahn. Oder gerne auch mal beide. Okay, vielleicht nicht jeden zweiten Tag, aber oft.
A.Y.: Naja, aber hier heißt zu spät kommen: 5 oder 10 Minuten, oder? Das ist in Syrien nicht zu spät, das ist pünktlich! Bei uns muss man oft eine oder zwei Stunden auf den Bus warten. Das ist dann wirklich zu spät…
Annette: Okay… Sind die Züge pünktlicher?
A.Y.: Seit der Krieg in Syrien begonnen hat, fahren gar keine Züge mehr. Und S-Bahnen oder Straßenbahnen gibt es gar nicht…
Annette: Erzähl doch mal, wie das mit dem Busfahren in Syrien so funktioniert.
A.Y.: Es gibt oft nur eine vage Abfahrtszeit. Zum Beispiel bei den Kleinbussen, die von Stadt zu Stadt fahren: Man wartet so lange, bis ein Bus kommt. Und der Bus fährt erst dann ab, wenn er voll ist und alle Plätze belegt sind. Wenn du keinen Platz mehr bekommen hast, dann wartest du auf den nächsten…
Annette: Gibt es noch mehr Unterschiede?
A.Y.: Hier in Deutschland gibt es Wochenfahrkarten, Monatskarten. Kinder und alte Menschen zahlen weniger. Das finde ich gut. Das ist gerecht. Und das zeigt Respekt gegenüber den Menschen. Für Kinder, Ältere, Studenten… In Syrien zahlen alle das gleiche. Und Monatskarten gibt es nicht, man muss bei jeder Busfahrt ein Ticket kaufen.
Annette: Was fällt dir hier noch auf?
A.Y.: Der größte Unterschied sind die Menschen. Im Bus reden sie hier in Deutschland kaum miteinander. Und wenn, dann sehr leise. Sogar die Kinder sitzen brav auf ihren Sitzen.
Annette: Okay, wenn ich morgens zur Arbeit fahre, bin ich müde und habe auch gerne meine Ruhe. Und dann bin ich ganz froh, wenn es leise ist und ich noch ein bisschen dösen kann…
A.Y.: Aber wenn man miteinander spricht, dann gibt das Energie. Dann ist man nicht mehr müde. In Syrien ist der Vormittag laut. Die Menschen begrüßen sich auf der Straße. Sie rufen sich zu: Hallo, wie geht’s? Auch im Bus sprechen sie sehr laut. Sie hören laut Musik, im Auto, im Bus. In den Kleinbussen macht der Fahrer oft die Musik für alle an. Dann singen alle mit oder unterhalten sich. Die Kinder schreien und toben durch den Bus. Und wenn man eine Stunde Bus gefahren ist, dann hat man in Syrien viele neue Freunde.
Annette: Neue Freunde habe ich hier im Bus tatsächlich noch nicht kennengelernt… Und es stimmt, ich unterhalte mich im Bus oder in der S-Bahn sehr selten. Eigentlich nur, wenn ich einen Bekannten treffe. Aber mit Menschen, die ich nicht kenne, komme ich fast nie ins Gespräch. Das will ich auch gar nicht. Und ich mag es, wenn es nicht so laut in der S-Bahn ist und ich meine Ruhe habe und lesen kann…
A.Y.: Hey, du fährst doch morgens immer mit dem Bus. Morgen früh muss ich auch nach Ludwigsburg. Dann treffen wir uns im Bus und können uns ein bisschen unterhalten. Du wirst sehen, wie dir das Energie gibt… (lacht)
Annette: Oje;-)
(Gespräch aufgezeichnet von Annette)
Meine Sicht – deine Sicht: Wie erleben die geflüchteten Frauen und Männer ihren neuen Alltag in Deutschland? Was verwundert sie? Was ist anders als in ihrer Heimat? Und was ist vielleicht auch ähnlicher als gedacht? Der Blick des anderen kann helfen, das Eigene zu erkennen und sich so auch gegenseitig besser zu verstehen. In loser Reihenfolge wollen wir hier Texte veröffentlichen, in denen geflüchtete Frauen und Männer erzählen, was sie im Alltag in Deutschland erleben.